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6:55 PM
Tobias Sauer: Eine Ostergeschichte

Es ist ungefähr sechs Uhr früh, kurz vor Ostern. Im Kinderzimmer ist es noch etwas dämmerig. Die kleine Gisi, knapp fünf Jahre alt, schlägt die Augen auf, gähnt, streckt sich, dann ist sie hellwach. Sie steht auf, schlüpft in ihre Hausschuhe, lauscht hinaus in den Korridor. Alles ist still, die Eltern und Großeltern schlafen noch.

Ob sie jetzt schon mal ins Speisezimmer geht? Vielleicht war der Osterhase ja schon da. Der kommt nämlich seit ein paar Tagen immer frühmorgens, wenn noch alles schläft, um zu sehen, ob sie auch brav ist. Und fast jedes Mal verliert er etwas dabei, mal ein Schokoladenei, ein Mini- Osterhäschen oder auch einen Bonbon. Vielleicht legt der Osterhase es auch extra für sie hin, sie war ja immer lieb? Zumindest in letzter Zeit.

Es ist ein Geheimnis, Gisi hat niemanden was erzählt. Woher sie davon weiß? Kürzlich haben die Eltern in ihrem Beisein beiläufig davon gesprochen, dass der Osterhase jetzt immer morgens kommt, um sich zu vergewissern, dass die Kinder lieb sind, und dass er da öfters was dabei verliert. Das hat sich Gisi gemerkt und gleich am nächsten Morgen im Speisezimmer nachgeguckt. Im Speisezimmer, weil das nur an Sonn- und Feiertagen benutzt wird, und weil da immer die Ostereier versteckt sind. Und richtig, da lag etwas unter dem großen Esstisch, ein kleines flauschig- gelbes Küken! Gisi hat es schnell aufgehoben und in ihrem Zimmer versteckt. Es braucht ja niemand zu wissen, dass sie zugehört hat. Mami und Papi haben ja nicht zu ihr gesprochen, vielleicht wollten sie selbst nachsehen!

Noch immer ist alles still. Gisi denkt nach. Wie der Osterhase wohl in die Wohnung kommt? Vielleicht kann er zaubern und ohne Schlüssel die Tür öffnen? Und wie er wohl aussieht? Sicher wie in ihrem Bilderbuch, da hat er blaue Hosen an und ein bunt kariertes Hemd. Ob sie ihn wohl einmal belauschen soll? Lieber nicht, das hat der Osterhase nicht gern, genau wie das Christkind , und vielleicht kommt er dann nicht mehr - aber sie will ihn doch soo gern einmal sehn, nur ganz kurz! Gisi steht sinnend da und stellt sich den Osterhasen vor.

Da, plötzlich ein Geräusch draußen, als wenn eine Tür geöffnet wird. Der Osterhase! Gisi zögert kurz, dann öffnet sie leise, ganz leise die Kinderzimmertür einen Spalt breit und lugt vorsichtig hinaus auf den Flur.

Und was sieht sie da? Nicht den Osterhasen. Die Mami ist es, sie hat was in der Hand, mit bloßen Füßen huscht sie über den Flur zur Speisezimmertür, öffnet sie , geht hinein. Und dann, Gisi sieht es, und plötzlich wird ihr heiß und kalt, dann legt sie etwas unter den Tisch, genau an die Stelle, wo sonst der Osterhase... der Osterhase?

Wie betäubt steht sie da, ihr wirbelt der Kopf. Und dann überfällt sie mit einem Schlag die Erkenntnis - Nicht der Osterhase, die Mami hat die Sachen hingelegt. Die Mami, vielleicht gibt es ihn gar nicht, den Osterhasen? Das kann doch nicht sein, oder doch? Es gibt gar keinen Osterhasen, alle haben sie angelogen. Es gibt ihn nicht.

Gisi schleicht zurück zum Bett, die Decke zieht sie bis über den Kopf. Es gibt keinen Osterhasen. Vielleicht auch kein Christkind? Aber warum haben sie so gelogen, alle?

Sie fühlt sich wie leer innen, tief enttäuscht und beschämt wie noch
nie in ihrem Leben. So, als könne sie nie mehr froh werden. Und dann kommen die Tränen...

Gisi hat auch danach kein Wort verlauten lassen, niemand merkt etwas. Die Eltern wundern sich nur, dass das kleine Schokoladenlamm am Abend noch immer unter dem Tisch liegt. Erst am nächsten Tag ist es verschwunden, als Gisi sich von der ersten schweren Erschütterung ihres Lebens etwas erholt hat. Das Leben geht weiter, und natürlich freut sie sich dann an Ostern über die bunten Eier, die Süßigkeiten und den großen Ball vom „Osterhasen". Aber es ist nicht mehr wie es sonst war, das Wunderbare und Geheimnisvolle ist dahin, für immer. Und nie wird sie später dieses Gefühl vergessen, wie sie dastand und ihr dämmerte, dass es keinen Osterhasen gibt.





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